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Datum:   11.06.1999
Ressort:   Sonderbeilagen
Autor:   Eva Corino

Hier diese Schönheit geht dir zu Herzen

Am Anfang wanderten die Schauspieler von Gardzienice in die entlegensten Dörfer, zogen einen Leiterwagen hinter sich her und spielten vor Menschen, die noch nie im Theater waren.

Der Himmel ist blau, und es ist kalt. Birkenwälder säumen die Straße, Schlaglöcher erschüttern die Fahrt. Die Wiesen sind überschwemmt, und eine dünne Eisschicht liegt auf dem Wasser. Vor einem Holzschuppen steht ein Pferdewagen, der Bauer hat angeschirrt. Die Schulkinder gehen ihren langen Weg nach Hause. Und eine alte Frau kauert sich hinter ein Gesträuch. Sie trägt ein Kopftuch und viele Rökke und viele Schichten unter dem Mantel, so daß die Knöpfe sich kaum schließen lassen. Wir erreichen das Dorf Gardzienice, das in Ostpolen liegt, nah der ukrainischen Grenze. Vor einem der ersten Häuser hockt ein junger Mann und sieht auf den Verkehr. "Das ist der Verrückte!" sagt Marjana Sadowska. "Er sagt, daß er wartet... Er sagt, daß er auf die Frau mit den richtigen Maßen wartet."

Die Annäherung

Das Theater liegt auf einer Anhöhe. Ein weißes Tor öffnet sich zu einer Tannenallee, und auf einer Lichtung stehen zwei herrschaftliche Gebäude. Der Park, der mit hohen Bäumen bestanden ist, erstreckt sich bis zu einem Flüßchen. Das Gutshaus haben die Schauspieler in zehnjähriger Arbeit wiederaufgebaut. Sie haben die Mauern trockengelegt, das Dach gedeckt und den Probenraum eingerichtet. Aus den Fenstern sieht man auf ein Schloß mit bröckelnden Fassaden, das einem kommunistischen Verein gehört. In seinem Innern liegt eine Kapelle. Da das Schloß leersteht, wollte die Denkmalpflege es dem Theater übereignen. Aber der Verein hat sich gewehrt und die Dorfbewohner aufgehetzt: "Die Schauspieler sind reicher als ihr. Woher haben sie das Geld? Sie sind Juden. Sie fahren durch die ganze Welt, und warum? Weil sie ein Theater machen, daß ihr nicht versteht. Sie sagen, daß sie an Gott glauben. Aber gehen sie zur Kirche? Nein, sie lachen über euch!" Marjana sagt, daß nur manche Dorfbewohner so mißtrauisch sind und die Vorstellungen meiden, die jeden Monat an zwei Abenden in Gardzienice gegeben werden. "Vor einiger Zeit hat Zofia Kaukus mir geschrieben, die hier lebt. Sie wollte mir sagen, wie sie ,Metamorphosis gesehen hat. Sie sagte es in ganz einfachen Worten, aber so schön. Ich glaube, das ist der schönste Brief, den ich je bekommen habe."

Wir haben Marjana in Lublin getroffen, der alten Universitätsstadt, eine Busstunde von Gardzienice entfernt. Hier liegt das Archiv des Theaters und das Büro, in dem neben drei festangestellten Kräften auch die Schauspieler emsig aus- und eingehen. Marjana erzählt, daß sie in der Ukraine aufgewachsen ist. Sie studierte Klavier an der Musikhochschule von Lviv, dem früheren Lemberg, als Wlodzimierz Staniewski und seine Truppe dort auftraten. Das war vor sieben Jahren. Sie war gerade zwanzig Jahre alt und entschloß sich sofort, der Truppe zu folgen. Sie verließ ihre Familie, lernte Polnisch und zog in ein großes halb verfallenes Haus in Gardzienice. Sie hackte Holz, holte Wasser von der Quelle, zerschlug das Eis in den Wintern. Auch im Theater mußte sie zunächst die bescheidenen Arbeiten machen. Sie mußte für die Requisiten sorgen, den Boden kehren und das Klo säubern. Aber sie empfand das nicht als kränkend, sondern als einen Dienst an der Sache. Dann durfte sie im Chor singen. Dann durfte sie den Chor führen. Dann spielte sie ihre erste wichtige Rolle. Sie beschreibt das als Stufen einer langsamen Initiation. Als es daran ging, die Arbeit an der Inszenierung "Metamorphosis" aufzunehmen, mußte Marjana sich auch entscheiden, ob sie sich für viele Jahre binden wollte. Sie wollte es, und sie übernahm eine der tragenden Rollen.

"Diese Arbeit hat mich genommen wie ein Mann", sagt sie lachend. "Ich bin glücklich. Auch wenn die Anstrengung schmerzhaft ist. Die Proben beginnen am Abend und gehen bis tief in die Nacht. Am Tag bereiten wir uns vor und erledigen andere Aufgaben, organisieren die Expeditionen, die Auftritte im Ausland, machen Übersetzungen und so weiter. Wir leben für unsere Arbeit, aber wir sind keine Kommune, wie manche Leute denken. Jeder Schauspieler hat sein eigenes Haus, in das er sich zurückziehen kann. Auf den Proben kommen wir uns so nah, daß diese Rückzugsmöglichkeit auch nötig ist."

Der Empfang

Wlodzimierz Staniewski begrüßt uns und stellt uns der Truppe vor. Alle geben uns die Hand: Tomasz Rodowicz und Mariusz Golaj, die seit über zwanzig Jahren hier arbeiten, Dorota Porowska, Elzbieta Rojek, Joanna Holzgreber und Marcin Mrowsca, auch das schwedische Paar Britta Forslund und Martin Essen-Möller, das seit fünf Jahren dazugehört. Draußen ist Nacht. Ein Mann kommt schweigend herein und macht Feuer im Kamin. Er wirft einen freundlichen Blick auf uns und verschwindet. Ein Mädchen schwebt herein und bringt uns eine Kanne Tee. Später kommt sie noch einmal und bringt einen Teller mit Honigbroten. Sie ist Schülerin der Akademie, die seit zwei Jahren in Gardzienice stattfindet. Staniewski fragt, was wir erfahren möchten in den kommenden Tagen. Er sitzt uns gegenüber und sieht uns an mit wachen Augen. Es ist auch etwas Schalkhaftes darin, obwohl man ihm die rastlose Arbeit ansieht. An den Proben dürfen wir jetzt noch nicht teilnehmen. Alles hat seine Zeit, muß sich vorbereiten und seinen Ernst erweisen.

Der schweigende Mann kommt zurück. Er heißt Grzegorz Podbieglowski, und seine erste Begegnung mit Gardzienice ist zusammengefaßt in dieser Geste: Seine geschlossene Faust prallt auf seine offene Handfläche, und die Finger schließen sich um sie, ganz sanft und fest! Ähnlich erlebte es Johanna Wichowska. Aus ihrer Erzählung erfahren wir die Geschichte des Theaters: Wlodzimierz Staniewski war nach dem Studium der Polonistik fünf Jahre im Theaterlaboratorium bei Grotowski. 1977 kam er nach Gardzienice, gründete sein "Zentrum für Theaterpraktiken" und suchte nach Menschen, die in Denkart und Temperament verbunden waren. Sie hatten keine Schauspielausbildung, sondern Talent und einen geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Staniewski wollte die leeren Gewohnheiten der städtischen Bühnen hinter sich lassen. Der Gang aufs Land hatte gleichzeitig politische Gründe. Der Repression durch das kommunistische Regime waren sie hier weniger ausgeliefert. Sie lebten im wesentlichen von dem, was sie durch Gastspiele im Ausland verdienten. Erst 1990 wurden sie als nationale Institution anerkannt und vom Kultusministerium in Warschau und vom Senat von Lublin unterstützt. Die postkommunistische Partei, die jetzt dort das Sagen hat, will die Gelder drastisch reduzieren. Sie plant, unmittelbar neben dem Theater ein Trainingslager für Geheimpolizisten einzurichten und das Ganze mit Stacheldraht zu umzäunen.

Schon in den ersten Jahren unternahm die Truppe große Expeditionen durch Ostpolen, in die Ukraine und nach Weißrußland. Sie wanderte in die entlegensten Dörfer und zog ihr Gepäck auf einem Leiterwagen hinter sich her. Sie hatte eine Inszenierung erarbeitet, die sich schlicht "Eine Abendvorstellung" nannte, und spielte vor Menschen, die nie im Theater gewesen waren. Zum Dank für das "Gastgeschenk" erzählten die Bauern ihre Mythen, sangen ihre Lieder und tanzten ihre Tänze. Es gibt Fotos aus dieser Zeit: Ich sehe eine alte Frau, die ihre geschwollenen Hände im Schoß gefaltet hat. Der junge Mariusz sitzt zu ihren Füßen und hört zu, was sie erzählt. Ich sehe den springenden Zopf von Dorota, die mit einem Zigeuner tanzt. Er hat sie um die Hüfte gefaßt und zeigt ihr die Schritte, während die Musiker belustigt zuschauen. Die anderen Schauspieler trinken mit den Gastgebern, prägen sich die Bräuche ein, die Landschaft, aus der sie erwachsen sind. "Gathering" nennt Staniewski diese Form der Begegnung. Durch sie gewinnt er sein Material. Er bewahrt die Volkskultur, indem er sie aufhebt in einem eigenständigen und zeitgenössischen Werk.

Bisher sind in Gardzienice fünf Inszenierungen entstanden: Nach der "Abendvorstellung" (1977) kam die Inszenierung "Gusla" (1981), die sich auf die "Ahnenfeier" von Adam Mickiewicz beruft. Für "Avvakum" (1983) hat sich die Truppe stark mit der russisch-orthodoxen Liturgie beschäftigt, mit ihrer goldgegründeten Ikonographie. "Carmina Burana" (1990) sucht die Aura des frühen Mittelalters auf, "Metamorphosis" (1997) die der Spätantike. Keine der Inszenierungen dauert länger als eine Stunde. Damit scheint wenig geleistet zu sein in einer Spanne von über zwanzig Jahren. Und doch ist es viel, weil jede Arbeit sich in den Geist einer anderen Epoche versenkt, ihre Sprache erlernt und ihre Instrumentierung. Es handelt sich um Epochen, die für Staniewski einen engen Bezug haben zur Gegenwart, die aber durch den zeitlichen Abstand einfacher zu fassen sind. Die Werke der Weltliteratur, auf die sich die Inszenierungen beziehen, werden nicht auf ihre Handlung verkürzt. Es gibt keine "Handlung" bei Staniewski. Der Autor soll "anwesend" sein in den Schauspielern.

Das Fest

Wir warten auf die Vorstellung in dem geschlossenen Foyer. Es sind Menschen aus Gardzienice gekommen, aus Lublin und dem Ausland. Sie alle werden behandelt wie Gäste, die eingeladen und seit langem erwartet worden sind. Heißer Tee wird ausgeschenkt und Kaffee gereicht. Die Schüler der Akademie waren den Tag damit beschäftigt, das Haus zu reinigen und alles herzurichten. Schon kennt man die Fremden, stellt sich vor, aus welchem Alltag sie aufgebrochen sind, wie sie die Kleider gewechselt, das Haar gekämmt und das Dunkle unter den Fingernägeln entfernt haben. Staniewski geht in die Mitte des Raums, begrüßt alle und führt ein in die Inszenierungen "Carmina Burana" und "Metamorphosis", die an diesem Abend gezeigt werden. "Metamorphosis" geht aus von den Rekonstruktionen der wenigen antiken Gesänge, die zwischen dem 5. Jahrhundert vor Christus und dem 2. Jahrhundert nach Christus entstanden und noch erhalten sind. Sie haben die Fragmente ergänzt durch die Erfahrungen, die sie mit der Volksmusik in der Ukraine, in Ägypten und Griechenland gemacht haben. Die Gesänge verbinden sich mit dem Werk "Der goldene Esel" von Apuleius. Es handelt von Lucius, der in Eselsgestalt verwandelt und in die Mysterien der Göttin Isis eingeweiht wird. Staniewski schließt seine Rede mit einem Wink, und die Menschen folgen ihm auf die Veranda und hinab in den Park. Hölzerne Bänke stehen im Theater, und jedem wird ein Platz gewiesen.

Der Regisseur klopft an die Tür, und neun Schauspieler treten heraus. Sie tragen Kopftücher und verbeulte Hüte wie die Bauern im Dorf. Ihre Gesichter sind zu greisenhaften Masken erstarrt, die Augen sind zwinkernd zusammengekniffen, die breiten Münder speichelfeucht. Ein burlesker Humor liegt in der Anordnung, die sich so schnell auflöst, wie sie sich gebildet hat. Unter der Arbeitskluft kommen weiße Gewänder zum Vorschein. Die Gesichter glätten und die Schauspieler verjüngen sich zu einem Chor von griechischen Schwärmern, die sich um eine lange Tafel versammeln. Die erste Hymne wird gesungen, und Psyche spielt indisches Harmonium. Die eine Hand wandert über die Tasten, während sie mit der anderen den schmalen Blasbalg bewegt. Zwei reife Männer, in eine Toga gewikkelt, hocken auf einem Säulenstumpf. Sie verschränken Arme und Beine, als wären sie die Hälften des Kugelmenschen, und zitieren aus dem platonischen Dialog "Phaidros". Sie sprechen von Besessenheit, die ein Gottesgeschenk ist und dem nüchternen Verstand überlegen. Sie sprechen vom Eros als der eigentlich heilenden und schöpferischen Kraft. Und kaum gesagt, wird all das ins Bild gesetzt. Die Frauen werden zu Mänaden, die vom Gott Dionysos besessen sind und sich seinem Dienst weihen in ihren wirbelnden Tänzen, die Haare fliegen, und die Zipfel der Kleider, die Arme schnellen wie Schlangen hervor im hellen Klang der Zimbeln. Dionysos erscheint mit einem großen Holzbalken, den er zwischen seinen Beinen aufrichtet und tanzend balanciert. Und auf einmal wird der Balken zu einem Kreuz, an das er geschlagen ist. Der glänzende Blick erlischt, und sein Gesicht, von Lokken umgeben, hat jetzt einen duldenden Ausdruck. Alles hängt herab, und die Lider sind geschlossen. In Sekundenschnelle durchquert der Schauspieler zwei entgegengesetzte Geisteshaltungen und zeigt gleichzeitig, wie sehr sie zusammengehören. Eine Mänade kniet jetzt zu seinen Füßen und erhebt die Hände zum Himmel wie Maria auf dem Berg Golgatha. Lucius rennt auf der Stelle, sein Rennen wird ein Galoppieren, seine Hände krümmen sich zu Hufen, und ein grauer Schwanz wächst aus seiner Hose. Die Verwandlung des Menschen in einen Esel ist vollzogen.

Psyche tritt zum Publikum und kündigt ganz nüchtern ihre "Hysterie" an. Dann tritt sie über die Schwelle in den Raum eines anderen Zustands: Sie wirft ihren Körper an der Wand hin und her, fällt zu Boden und fängt an, bitter zu lachen und klagend zu singen. Es ist so schön, wie sie den Arm ausstreckt und das dunkle Haar über ihre Schultern fließt. Und alles fließt so rasch, daß man den lichten Umriß ihrer Bewegung nicht sehen, sondern gleichsam nur erinnern kann. Dionysos und die Mänaden drehen sich dreimal in die eine Richtung, blicken gerade heraus und drehen sich dreimal in die andere Richtung, die Arme schwingend in weitem Bogen, und sie singen, bis den Zuschauern schwindlig wird. Dann halten sie plötzlich an, und man hört nur das Atmen, sieht die sich hebenden und senkenden Brustkörper. Diese Zäsur hat etwas Gewaltiges, nachdem der Rhythmus so mitreißend war und das Auge den Gestalten nicht folgen konnte, wie sie atemlos auseinander hervorgingen. Und jetzt stehen sie still. Und jetzt fangen sie wieder an, sich zu drehen und ihre Stimmen zu erheben wie Möwen, die sich in die Brandung stürzen. Die ganze Natur ist gegenwärtig in den Schauspielern. Sie offenbart sich in ihren "Metamorphosen". Als das Ende in den Anfang zurückkehrt, beginnt der Applaus. Mariusz Golaj unterbindet ihn sanft, und die Zuschauer strömen nach draußen.

Auf der Veranda. Die Laute, die Gesten, die Mienen: Alles wirkt noch nach. Die ungeheure Lebensfreude, die Energie. Das ist die größte Wildheit, gebändigt in der Form. Eine Verwandlung, die keine prächtigen Kostüme braucht, kein Kulissenschieben. Sie ist in der Vorstellungskraft der Schauspieler, und deshalb ist sie faktisch. Jede Bewegung verrät die harmonische Durchbildung ihres Körpers, die bis in die Fingerspitzen geht. Sie erforschen ihre Möglichkeiten und gehen über die Grenze. Sie beherrschen die Technik und werden nicht beherrscht von ihr. Das Können ist in den Körpern, nicht in den Prothesen. Die Choreographie ist ein mögliches Gefäß der Mysterien. Die nach ihnen suchen, haben eine aufgeklärte Haltung. Sie gehen mit dem Verstand so weit es geht. Sie studieren die Wissenschaften für ihre Kunst. Sie lieben die Philosophie und leben die Prinzipien, die sie für richtig halten. Freiwillig unterstellen sie sich der gesetzten Ordnung, die ihr Werk ermöglicht. Abseits vom Leben sind sie in seiner Mitte.

Die Pierogi

Im Park stehen die Kanonen, in denen das Essen warmgehalten wird, Dampf zischt aus den Ritzen. Es gehört zum Ritual, daß jeder einen Teller mit Pierogi bekommt. Das sind gelbe Teigtaschen, die mit Käse gefüllt sind. Nach dem Umziehen erscheinen die Schauspieler und stellen sich dem Gespräch. Bilder von griechischen Vasen werden an die Wand projiziert. Ela Rojek ahmt die Haltung der Figurinen nach und verbindet die statischen Posen zu dem Tanz, der in "Metamorphosis" zu sehen war. Das ist, als ob die Vasenbilder lebendig werden, als ob man die Hand ausstrecken und die Antike berühren könnte. Marjana zeigt Noten aus der "Iphigenie" des Euripides, die auf Papyros notiert sind. Sie singt sie ab und berichtet, wie der Musiker und Komponist Maciej Rychly die zehn "Partituren" entschlüsselt hat. "Die Musik liegt in der Suche nach der ursprünglichen Form, auch wenn sie letztlich unbekannt bleibt", sagt Rychly. Die Harmonik ist unserem Gehör so fremd wie der Rhythmus der Fünftel- und Siebteltakte. "Für mich war der Halbtonschritt das kleinste Intervall" sagt Marjana. "Und nachdem wir Mikrotöne singen, erscheint mir ein halber Ton wie eine Quarte."

Jemand aus dem Publikum beschwert sich, daß er nicht klatschen durfte. Es entsteht ein kleines Wortgefecht über die Vor- und Nachteile des Klatschens. Am Ende trommelt Staniewski noch einmal alle Schauspieler zusammen, und sie spielen die letzte Szene, aber gleichsam mit einem Augenzwinkern. Dann spielt das Publikum, daß es klatscht, und verabschiedet sich. Ich bitte Marjana, mir noch den Brief zu zeigen, von dem sie erzählt hat.

Brief der Zofia Kaukus

Verzeihen Sie, Marylka, daß ich ihre Zeit stehle. Aber ich denke, daß Sie mir verzeihen werden. Ich wollte mich prüfen, ob ich die Vorstellung gut verstanden habe.

Essenz des Theaters "Gardzienice":

1. Szenographie das meint die Figuren der Künstler, erstaunlich

2. Das Singen es ist erstaunlich, es scheint mir, daß es höher nicht geht. Aber es ist zuviel davon. Das geht über die menschliche Kraft, das anzuhören, vielleicht geht es darum, ich weiß nicht, das ist Sensibilität. Ich verstehe es so in diesem Lied, da ist nicht viel Freude, aber viel Traurigkeit, Verzweiflung, Zwang, Verlassensein und Verlust von was? Wahrscheinlich von der Liebe.

3. Hier weiß ich nicht Diese beiden Männer, die miteinander verflochten sind. Es scheint mir, daß es ein Mann ist, verheddert mit seiner zweiten spirituellen Persönlichkeit, mit der er kämpfte. Und am Ende war er allein, übersättigt vom Leben, und er wollte sterben. Manche verzweifelten, manche verhöhnten ihn, ermutigten ihn zu dem Leben, zu der Ausschweifung. Diese Mädchen tanzen sich fast zu Tode, so wie die Nymphen im Wald. Und die schöne Szene, wenn er aufsteht: das Mädchen rennt auf ihn zu und fordert ihn heraus, sehr verlockend, ihr zu folgen, und er geht, dreht sich um, und sie bleibt überrascht zurück und rennt noch einmal hinter ihm her. Und hier ist das schöne Fragment nahe der Wand. Die Worte sind zu klein, um dieses Drama zu beschreiben. Und diese Tröstung, so herzlich von dem zweiten Mann, kann nicht viel helfen.

4. Das Erscheinen von Christus, der so eine schwere Last trägt und gebeugt ist von ihr, diese Schönheit geht Dir zu Herzen. Tanz mit einem Stock. Auch der Teufel könnte es nicht besser zeigen. Ich sah den Stock zwischen den Beinen, ich fühlte Abscheu. Ich fühle Erniedrigung dieser lastenden Schönheit durch die Ausschweifung. Erstaunlich spielt die Frau im schwarzen Kleid. Auch der Mann. Und diese Trommeln, Flöte. Die ganze Verlegenheit war nur, daß ich nicht alle Worte verstehen konnte, die gesprochen wurden in der Vorstellung... Ich sah die mühsame harte Arbeit der Künstler und die Arbeit am gemeinsamen Haus, das aus Ruinen auferstanden ist. Aber man sieht hier keine Entmutigung, wie zum Beispiel die Holzarbeit. Das Bild von dem Theater gebiert Hoffnung auf weitere Arbeit. Gott schenke Dir Glück,

Frau Zofia, Gardzienice

Der ländliche Dionysos

Auf einer Landstraße, die immer geradeaus geht. Kahle Sträucher und sonst nichts als Äcker. Da sehen wir zwei Männer auf uns zukommen, der eine schiebt ein Fahrrad mit winzigen Rädern neben sich her. Als sie noch zehn Meter von uns entfernt sind, schmettern sie ein Liedchen, und wir erwidern die Melodie so gut wir können. Vielleicht ist der Text erst ab 18. Jedenfalls grinsen sie und begrüßen uns lauthals. Sie fragen nach unserem Namen und was wir hier machen. Als wir vom Theater erzählen, äffen sie den hohen Gesang nach, den sie dort gehört haben müssen, und lachen, daß man die schlechten Zähne sieht. Heute ist Sonntag, da lassen die beiden Brüder ihre Arbeit ruhen und gehen zum Saufen ins Dorf. Sie haben schon vorher ein bißchen eingefüllt, damit es nicht so teuer wird. Und so legt der eine jetzt ein Tänzchen auf den Asphalt, die Gummistiefel quietschen, und er breitet die Arme aus, während sein Bruder in die Hände klatscht. Während er auf meinen Gefährten deutet, zeigt er mit den Händen ein kleines Maß. Während er auf sich deutet, zeigt er mit den Händen ein großes Maß. Er meint die Schwanzlänge und will mit uns trinken.

Fastfood in Warschau

Die Wahrnehmung der polnischen Hauptstadt wirft ein ganz anderes Licht auf die Arbeit in Gardzienice und ihren Wert. Zwischen Wohnsilos hat eine neue McDonalds-Filiale eröffnet. Ein Cadillac ist in die Wand eingemauert, der Fahrer scheint vor lauter Heißhunger in das Gebäude hineingefahren zu sein. Über dem Kotflügel ist eine Neonröhre angebracht mit dem Schriftzug: "Pink Cadillac". Die dicke Mutter entziffert ihn, während der dicke Sohn gerade seine letzten Pommes in die Mayonnaise tunkt. An der Wand hängt ein rotes Plakat mit der Aufschrift "Licenja na sukzes"; eine starke amerikanische Hand schüttelt eine nicht ganz so starke polnische Hand, und darunter steht der Name des Filialleiters. Er ist umrahmt von einigen Pin-ups: Marilyn Monroe mit dem auffliegenden Kleid, James Dean mit Zigarette im Mundwinkel, Humphrey Bogart mit Hut und Lauren Bacall in schmiegsamer Haltung, die glitzernd eingerahmten Worte "hot" und "star". Zwischen falschen Kakteen sitzen einige frischfrittierte Geschäftsmänner, die ihren Cheeseburger so essen wie sie ihre Krawatten tragen: gehorsam. Alle werden von diesen Ikonenen zum Kunden missioniert, und die Menschen stehen Schlange, um das weiche Brötchen und das braune Zuckerwasser in sich aufzunehmen wie bei der Kommunion.

Wenn der Magen denkt, sterben die Fragen aus. Das zeigt sich auch in den Warschauer Theatern, die vor 1989 das Zentrum der gesellschaftlichen Verständigung waren. Jetzt erscheinen sie als etwas altmodische Orte, die mit der modernen Unterhaltungsindustrie nicht konkurrieren können. Um sich vor dem Tod zu retten, verwandeln sich die Theater in Fastfood-Theater: Die Inszenierungen werden schnell produziert und schnell konsumiert, die aufwendige Verpackung wird weggeschmissen, der Inhalt schlecht verdaut. Die Ensembles lösen sich auf, die Schauspieler haben nur noch kurzfristige Engagements, und die darstellende Kunst wird zu einer Kunst der Zerstreuung. Um so beeindruckender ist das, was in Gardzienice geleistet wird. Die Forschungen nach der Volkskultur und den vom Aussterben bedrohten Ausdrucksformen wehren der Gleichschaltung. Der Rückzug auf das Dorf ermöglicht den langen Atem in der jahrelangen Arbeit an einer Inszenierung. Die entschiedene Haltung der Schauspieler und der gewachsene Zusammenhang zwischen ihnen ermöglicht ihre Vollendung. Und gleichzeitig gehören sie nicht zu den einfältigen Anhängern einer "Zurück-Zur-Natur-Ideologie". Ihr Büro ist mit der modernsten Kommunikationstechnologie ausgestattet. Und so unterhalten sie Beziehungen zu den großen Festivals in der Welt und zeigen dort, was in der Stille entstand. Das ist eine mögliche Antwort auf die Globalisierung.

Die Internationale

Gardzienice by night" sagt Joanna, als wir losgehen. Nur die Hunde schlafen noch nicht. Joanna sagt uns, wir sollen "Buda!" rufen, was so viel heißt wie "Geh nach Hause!". Und wir üben den Ruf zusammen. Doch die Hunde merken, daß wir es nicht ernst meinen, und kläffen uns hinterher. Die schwarze Erde auf der Dorfstraße ist gefroren, der Wodka wird von Hand zu Hand gereicht, und die Füße stolpern sich eins. Gregorz trägt sein Akkordeon auf dem Rücken, und sobald wir die Küche betreten, fängt er an zu spielen. Es ist zwei Uhr, als die Truppe von der Probe kommt und zu uns in die Küche poltert. Nachdem die verklebten Nudeln unter Komplimenten verschlungen ist, beginnen die Trommeln, und jeder, der Hände hat, klatscht einen Rhythmus auf den Tisch oder auf seine Schenkel. Wir stehen auf, die Schuhe haben wir von uns geworfen. Gregorz zeigt einen Tanz, die polnische oder weißrussische Version eines Sirtaki. Wir rufen "Po scianach!", also "Auf die Mauern!" und brechen erst ab, als es schneller nicht mehr geht. "Jetzt etwas Melancholisches!" bitten wir den Akkordeonisten. "Das war melancholisch!" sagt Gregorz lachend und spielt die "Schwarzen Augen". Das ist das letzte Lied, alle wissen das. Es ist fünf Uhr früh, als wir uns verabschieden. Joanna hat sich bei uns eingehakt, als wir über die Dorfstraße nach Hause torkeln. Wir singen die "Internationale", und selbst die Hunde stimmen ein. Als wir am nächsten Morgen die Küche betreten, ist gespült. Und alle sind schon bei der Arbeit.

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